Warum? Bericht aus der Werkstatt.

Als Science-Fiction Autor habe ich ein kleines Problem: In den letzten Jahren hat mich die Realität gnadenlos ausgebootet und meine Fantasien links überholt. All die Fragen und Probleme, die ich mir für die nächste Generation ausgedacht habe, finden sich heute in aller Ausführlichkeit in den Feuilletons der Tagespresse diskutiert, beschäftigen Ethiker und Gesetzgeber. Ökozid, Siegeszug der KI, Eroberung des Weltalls, Lebensverlängerung, Maschine-Mensch-Schnittstellen: Alles findet statt. Die Verheißungen der Apologeten aus dem Silicon-Valley übersteigen meine Fantasien um ein Vielfaches - was können da meine Texte noch beitragen?

In meiner letzten Arbeit setzte ich mich mit der Klimakatastrophe auseinander. Ich thematisierte meine Frustration über die Starrheit des Systems, das keine Veränderung zulässt, und heckte ein Virus aus, das sich von China aus rund um den Globus verbreitet und alles auf den Kopf stellt. 2020 tauchte Covid auf - ich sass auf 200 Seiten Makulatur. Die Realität war zu ähnlich und doch ganz anders, bestimmt würde sich niemand für meine Kopfgeburt interessieren.
Mir wurde klar, ein nächstes Projekte durfte keine Near Fiction sein, um nicht erneut von der Realität abgestraft zu werden. Ich musste eine ganz andere Versuchsanordnung finden, auf der Zeitlinie weiter ins Futur hüpfen. Oder einen Schritt zurückmachen.
Ich beschloss, auf einige klassische Motive der SF zurückzugreifen, und für einmal mit der großen Kelle anzurichten: Außerirdische bedrohen die Welt, einsamer Held rettet die Menschheit. Zeitreisen. Eine fremdartige Location, lebensfeindlich, ein postapokalyptischer Landstrich, der das Versagen einer Zivilisation vor Augen führt. Die Motive möglichst etwas anders aufbereitet, als man es erwartet. Dazu eine Umkehrung der Anteile zwischen S und F: 95 % Science und 5 % Fiction. Man soll etwas über die wirkliche Welt erfahren. Also mehr Fact als Flunkerei, keine wissenschaftlichen Spekulationen, sondern Hardcore-Chemie, Stoff- und Industriegeschichte, sorgfältige Recherche, nur minimale Fiktionalisierung.
Lässt sich mit dieser Versuchsanordnung eine unterhaltsame Geschichte erzählen, die den Zustand unserer Kultur reflektiert und die die Hoffnung auf eine lebenswerte Zukunft ausdrückt? Der Ansatz schien mir reizvoll.

Für Thema und Stoff griff ich auf eine alte Passion zurück: Das Blau verdanke ich Derek Jarman. Seit dreissig Jahren begleiten mich sein Film „Blue“ und sein Buch „Chroma“ als treue Freunde. Irgendwann rutschte der Punkt, mich etwas intensiver mit der Farbe Blau zu beschäftigen, auf die Liste der Dinge (Perversionen?), die ich im Leben einmal tun möchte. Warum nicht die Gelegenheit packen und eine Geschichte mit dem Protagonisten „Blau“ erzählen? Ich glaube kaum, dass dieser Stoff in diesem Kontext in einem SF-Roman bereits jemand bearbeitet hat - und der Ansatz schien mir abgedreht genug, damit die Realität mich nicht erneut alt aussehen lässt, oder das Thema jemand anderes anpackt, der das viel souveräner hinkriegt, als es mir möglich ist.

Taklamakan, die Location: Dieser unzugängliche und fremdartige Landstrich existiert tatsächlich auf unserem Planeten. Natürlich habe ich die Gegend genauso wenig bereist, wie dort nach meinem Wissenstand jemals Außerirdische gelandet sind. An meinen Beschreibungen ist nichts authentisch, ich verklickere meinen Leserinnen und Lesern ausschließlich Secondhand-Ware. Die Facts über die Lop Nor Potash Company stammen aus einer Dokumentation des chinesischen Staatsfernsehens. Das Museum in Ruoqiang habe ich auf Fotografien von chinesischen Touristen auf Weibo gesehen. Nancy Yong, eine junge Verkäuferin von Tiefbaumaschinen aus Shenzhen, die ich anlässlich meines Baggerkaufes auf Alibaba kennengelernt hatte, hat mir geholfen, die Inschriften der Tafeln im Museum auf den Fotografien zu entziffern. Danke Nancy;--)
Die Informationen über die alten Kulturen entlang der Seidenstraße und die Impressionen der Wüsten stammen weitgehend von Christoph Baumer. Seine Reiseberichte und Fotobände über die Taklamakan lagen die letzten drei Jahre auf meinem Tisch und haben mich inspiriert. Möge Herr Baumer mir verzeihen, wenn ich Dinge falsch verstanden habe oder verzerrt wiedergebe.