Lieber Orchideen als gar keine Ideen

400 x 1 Stunde, Skizzen und Notizen 2010

 

Am 15. November 2009 zeichne ich ein erstes Blatt.

Nach sicher 20 Jahren ausschliesslicher Kreativarbeit am Computer greife ich nach Stift und Papier und starte ein kleines Forschungsprojekt. Ich plane, mich nach den täglichen Sessions im Schwebetank hinzusetzen und eine Emotion, einen Gedanken, ein Bild festzuhalten. Ich denke an die Aussage von Johann Sebastian Bach, der sagte, es sei nicht das Problem, keine Ideen zu haben, sondern, dass man sie nach dem Aufstehen nicht zertrete. Ich beschliesse, den Moment zwischen Tank und Alltag, die Stunde zwischen sechs und sieben Uhr Morgens für mich und für das Skizzieren und Notieren zu reservieren.

 

Filzstift auf A4, schwarz und rot.

Nicht Facebook und nicht Blog, nicht Foto und Video, nicht Photoshop oder 3D: ich verspreche mir durch den Rückgriff auf eine alte Kulturtechnik aus meiner Jugend Reduktion und Konzentration. Meine ungelenke Hand wird nicht durch Artistik blenden, die Technik wird kaum ein Faktor sein. Ich muss mir die Handschrift wieder aneignen, die mir abhanden gekommen ist, aber das ist dann die ganze technische Herausforderung. Mein Output fliesst nicht in die Maschine, sondern gleich in eine physische Präsenz. Vielleicht gelingt mir  dadurch eine unbeschwerte Direktheit, die anders nicht so unmittelbar zu kriegen wäre. Vielleicht ermöglicht mir genau dieses Querstellen zum Zeitgeist in der Wahl der Produktionsmittel eine Reflexion von mir und meiner Gegenwart: für einmal beziehe ich Stellung ausserhalb. Es ist nicht die neutrale oder gar objektive Position des Wissenschaftlers, der selber nicht Teil der Versuchsanordnung sein darf, aber es ist ein Beobachtungsposten, der sich um eine gewisse Distanz zu dem Geschehen bemüht.

 

Die Wahl des Instrumentes

bestimmt, was ich damit herausfinden kann. Das Seziermesser wird mir kaum die Grundlagen der Kinetik näher bringen. Am Beginn meines Versuchs steht als Instrument der Floating-Tank. Das ist ein Instrument, das dem Hirn die Welt entzieht, alle äusseren Reize amputiert und das ICH auf sich selbst zurück wirft. Weiter verzichte ich auf alle Instrumente und stelle mir die Frage, was ich als Mensch unmittelbar mit der direkten Wahrnehmung, hinterfragt vom kritischen Denken, herausfinden kann. Als Thema beschäftigt mich, was mich als Menschen im Kern ausmacht: mein Hirn ist ein Knotenpunkt im globalen Netz, immer radikaler verbunden und online, und ich erachte das prinzipiell als Chance und nicht als Bedrohung. Trotzdem bin ich neugierig zu erfahren, was bleibt, wenn ich alle Kanäle kappe und mein Hirn offline schalte. Was verschafft sich Geltung? Was getraue ich mich zu Behaupten, ohne dies durch das Weltwissten im Netz verifiziert zu haben? 

 

Die Wahl des Bezugssystems

definiert, welche Fragestellungen möglich sind. Das Recht wird nicht nach der Moral, die Religion nicht nach dem Gewinn, die Ökonomie nicht nach der Schuld fragen. Als Mensch bin ich nicht ein Spezialist, mein Selbstverständnis und mein Denken ernährt sich, indem ich in allen Gebieten wildere. Der Reiz besteht darin, sich aus unterschiedlichen Richtungen an die Sache heran zu pirschen, den Dingen disparate Aspekte abzuringen, so gibt es die poetische und die analytische Seite, das Gedicht und das Diagramm.

 

Die Wahl der Mittel

bestimmt, was sich damit aussagen lässt. Das Röntgenbild wird nie etwas über die einnehmende Schönheit meiner Frau erzählen. Der Filzstift wird nicht die Nuancen des Bleistiftes oder die Präzision der Fotografie erreichen, die Taktilität und Haptik wird aussen vor gelassen, die Welt ist nicht farbig – einzig das Rot bricht das harte Schwarz Weiss. Für das Rot gibt es übrigens keinen Grund und keinen bestimmten Moment der Entscheidung, vermutlich spielte die Sympathie für die luftige Ästhetik und die Anmut der japanischen Tuschzeichnungen mit dem roten Siegelstempel eine Rolle. Allzu genau will ich das gar nicht wissen, sonst überführe ich mich dem Hang zum Kitsch und realisiert, wie unfrei man in seinen Neigungen und Urteilen letztlich immer ist.

 

Text und Bild:

Wir kennen diese Verbindung von dynamischem Bild und gesprochenen Text aus Film und Video, von statischem Bild und geschriebenem Text aus Comic oder Illustrierten, Zeitungen und Bildbänden. Die handschriftlichen Notizen und Skizzen entziehen sich einer kanonisierten Gattung und damit eines festgelegten Vertriebskanals, einer abgeflachten, konsumistischen Art der Rezeption und fixen Beurteilungskriterien. Das macht mich frei. Text und Bild sind die Grundlegenden Produktionsmittel für die Bildung von Welt im Hirn und ich schaffe mir hier ein Forum, direkt damit zu spielen, ohne mich durch Ansprüche oder Kriterien vorschnell auszubremsen.

 

Wie lange soll dieses Experiment dauern?

Ein Jahr? Tausend Zeichnungen?

Die Einheit bilden ein Stück Raum und Zeit: das Blatt und die Stunde. Die lassen sich prinzipiell endlos aneinander reihen, die Skala ist gegen oben offen, ein Ende nicht angelegt.

Der Vorgang bleibt solange interessant, als ich mich zuweilen selber überrasche. Es  tauchen Motive auf, die mich schon lange beschäftigen, es tauchen oft wieder dieselben Themen auf, in Variationen oder auch gleich, immer und immer wieder. Asger Jorn hatte mal gesagt, dass ein Künstlerleben höchstens zwei bis drei originäre Ideen hervorbringt. Ich sehe das nicht ganz so radikal, auch wenn es stimmt, dass wenige Ideen unablässig über Jahre im Kopf ihre Kreise ziehen. Das ist egal, wenn sich dazwischen Momente finden, die mich staunen, schmunzeln, innehalten lassen. Wenn man sich und die anderen nicht mehr überraschten kann, wird es Zeit, abzutreten.

Teilweise sind die Blätter als Tagebuch angelegt. Neben den Reflexionen fliessen Emotionen und Befindlichkeiten ein, die den täglichen Kampf schildern, sich seinen Aufgaben zu stellen. Mein Alltag ist nicht aufregend genug, um daraus Geschichten zu spinnen. Es sind einzelne Motive, die sich aus dem Leben hinaus in die Blätter stehlen. Der Job fordert und erdrückt mich, ich treffe Freunde, ich reise, Saltinbocca die kleine Katze stirbt, ich verliere unverhofft einen grossen Auftrag, dann beinahe die Agentur und das Haus und beinahe das Leben, ich überstehe alles – vorläufig, das versteht sich, das Leben kennt nur Etappensiege. Diesen Tagebuchblättern sitzt immer die Frage im Nacken, wo die radikale Selbstbefragung in eine larmoyante Selbstbespiegelung kippt, die ich als unangemessen und stillos erachte und vermeiden möchte.

 

Wer soll sich und warum diese Kritzeleien

und Handnotizen angucken? Ich verliere weder Geschäft noch Leben, das mindert die Dramatik und schmälert das voyeuristische Vergnügen beim Betrachten merklich. Soaps bieten intensivere Emotionen, bessere Geschichten und Pointen, im Internet findet sich zu all den Themen fundierteres Wissen, unsere Zeit wird in gewohnteren Medien von brillanteren Denkern analysiert, zur Unterhaltung und Erbauung bieten uns die Kultur- und Freizeitindustrie intelligente und attraktive Angebote an. In unserer Aufmerksamkeits-Ökonomie, wo jede Investition von Zeit überlegt sein will, sprechen wenige Gründe dafür, den Geist mit Handgemachtem und Selbstgekochtem zu füttern. Allenfalls darf man die Authentizität ins Feld führen, ich habe mit Herz und ehrlichen Rohstoffen gekocht und sorgfältig angerichtet. Vielleicht gibt es einige Einkehrende, die sich an den Tisch setzen und vom Angebot Kosten mögen – herzlich willkommen!

Die Zettel gehören nicht an die Wand, dazu weisen sie zuviel Text auf. Adäquate Orte wären Buch, Reader oder Tablet, wo man ungezwungen im Material stöbern kann. Es empfiehlt sich ein freies Flottieren, ein situationistisches Deriver durch den Raum zwischen zwei Buchdeckeln, ein Swypen und Hüpfen von Screen zu Screen: wie dem streunenden Stadtindianer erschliesst sich das widersprüchliche Geflecht disparater Impressionen und Emotionen durch den Weg, den er zurücklegt, nicht durch ein angepeiltes Ziel. 

Die Blätter sind wie ein langer Brief, ein handschriftlicher und persönlicher Brief, den Dir ein alter Kumpel geschrieben hat. Vielleicht wecken sie eine wehmütige Erinnerung, wie Du Briefe in einer nahen Vergangenheit erhieltest, als man noch etwas mehr Zeit aber keine Mails, SMS, Blogs und digitale Soziale Netzwerke hatte …

 

Lieber Orchideen als gar keine Ideen.

Dieses Exerzitium ist eine Übung des sich Bescheidens. Irgendwann kommt der Punkt in der eigenen Biografie, an dem einem die Grenzen seines Talentes und seiner Selbstdisziplin bewusst werden. Ich werde nie Kathedralen und Stadien in Stein errichten, werde keine Heerscharen von Statisten mit dem Megaphon durch Cinemascope-Kulissen bewegen, werde keine futuristischen Raumschlachten animieren, keinen Bestseller verfassen, ich werde auch kein radikaler Performer, anarchistischer Denker, provozierender Selbstverstümmler. Das alles blieb mir verwehrt und ich werde es kaum mehr verwirklichen. Da hilft nur eine potente Philosophie des sich Bescheidens: man sollte sich getrauen seine Möglichkeiten zu sehen und die fruchtbar zu machen. Bereits als einsamer Jüngling in sexuellen Nöten habe ich formuliert, lieber das Spätzchen in der Hand als das Täubchen vom Fach, und diesen lieber-dieses-als-jenes-Sätzen bin ich treu geblieben: sie verweisen auf eine tröstliche und ermutigende Art auf das vorhandene Potential.

Skizzen und Notizen, lieber das als gar nichts. Es soll mir genügen, dazu kann ich mir den notwendigen Raum in meinem Alltag verschaffen. Und immerhin: alles Gemachte beginnt mit Skizzen und Notizen, es ist die Rohform  der menschlichen Kultur, es ist die primäre Manifestation des Geistes in der physischen Welt. Ottl Aicher: Die Welt als Entwurf. Um den Gedankengang mit Tomas Schmit zu schliesse: Male kein Bild, wenn eine Zeichnung reicht, mache keine Skulptur, wenn Du es mit einem Bild ausdrücken kannst.

Lieber Orchideen als gar keine Ideen. Auch wenn es mässige Ideen sind, die oft genug in Kalauer und Kalendersprüche abzugleiten drohen:  irgendwann lassen sie sich zu einem wundersamen Blumenstrauss binden;-)

 

15. Nov. 2010 tom t.